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Katharina Hohmann |
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Jena mit zwei Augen gesehen |
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Wie nähert man sich einer Stadt? Was sucht
ein Reisender zuerst, wenn er als Fremder eine neue Stadt betritt? Wohin
führen die ersten Schritte in der unbekannten Topografie?
Im Sommer ist Jena, ähnlich wie Weimar, ein Ziel für Touristen. In
idyllischer Thüringer Hügellandschaft gelegen, sanft umstanden
von felsigen Bergen, dem Jenzig und dem Hausberg, ist das Stadtbild Jenas
geprägt von einer Mischung aus Urbanität (Trambahn! Siedlungsbau!
Hochhaus!) und Ländlichkeit. Alte Häuser mit verwunschenen
Gärten ziehen sich bis weit in die Innenstadt, deren Zentrum man
vergeblich sucht. Durch Bomben verursachte Leerflächen wurden nicht
wie in der westdeutschen Nachkriegszeit schnell in Fussgängerzonen mit
Shoppingimmobilien umgewandelt. In Jena sucht man vergeblich nach der
Mitte, die durch einen Hochhausturm signalisiert ist, der neuerdings in
eine Ladenrotunde namens Neue Mitte eingebettet ist. Fährt man mit
dem Aufzug hinauf ins Restaurant unter dem Himmel, ist man nicht höher
als die Berge ringsumher.
Drumherum zerfasert Jena in weiche Linien, die häuserbewürfelt
sind, unten gähnende Leere, die Stadtmitte bleibt eine geschlossene
Betonfläche, auf der Autos parken. Daneben eine Universität mit
dem rostigen, vehement diskutierten stählernen Nachwende-Kunstwerk
Frank Stellas im Hof; ein blutrotes Haus mit einem Spitzgiebel heißt
in Lettern Theaterhaus, davor wieder gähnende Leere mit Bratwurststand.
Klein und versteckt hinter Buschwerk Schillers Gartenhaus, daneben die
gelbe Post in großer Kurve Richtung Bahnhof. Das Phänomen des
Nichtgelingens von Plätzen, obwohl genug Platz ist, kommt Ronald, der
seine Studienzeit in Jena verbracht hat, in den Sinn.
Das Paradies liegt auch in Jena. So wurden im 17. Jahrhundert die
Flächen an den Stadträndern genannt. Nun liegt das Paradies fast
schon mittendrin und hat einen eigenen, mittlerweile leider neu gebauten
Bahnhof mit dem schönsten aller Namen: Jena Paradies.
Erinnerungen an Jena im Zeitenwechsel haben wie immer nur die Eingeborenen,
denen wie immer alles zu flott geht: die neuen Regierungen kommen wie die
Moden, gegen die man sich jahrelang resistent erwies. Was vor 15 Jahren war,
wissen fast alle, die sich heute eine Meinung bilden können und ein
mehr oder weniger selbständiges Leben führen. Was vor 25 Jahren
geschah, wird diffuser, weil die heute 25jährigen schon 10 Jahre alt
waren zu Zeiten der Wende, also die Dualität zweier Lebensweisen mit
sich herumschleppen, deren Aufarbeitung schwer fällt.
Die Zeit der beiden Weltkriege befindet sich heute in den Archiven und in
den oben beschriebenen Wunden, die noch immer in der Stadt klaffen. Die
Zeit der Romantik hingegen ist gut aufbewahrt in einem kleinen feinen
Museum unterm Markt und wird von Führungen zu Hölderlin und
Schiller lebendig gehalten. Das Stadtmuseum gibt es schon auch, sagt
Ronald, aber das kenne ich, Touristin, noch nicht.
Ich habe nur ein kleines Gerät aus der Touristeninformation dabei: ein
doppeläugiges Pappgestell, in das man einseitig ein Diapositiv einlegt.
Mit dieser seltsamen Brille spaziere ich durch die Stadt. Nicht mehr, nicht
weniger.
Mit einem neuen und einem alten Auge gehe ich geführt von einem
kleinen Beipackzettel durch die Stadt. Ich habe eine Brille auf. Eine
Brille, die funktioniert, wie alles nach der Abfahrt von Bahnsteig
neundreiviertel im meistgelesenen Roman aller Zeiten. Ich verschwinde in
einer anderen Realität, werde unsichtbar für alle Mitmenschen und sehe
scharfen Blicks hinein in andere Welten. Ich sehe mit zwei verschiedenen
Augen: dem klaren Blick einer Spurensucherin im heutigen Jena und dem
fiktiven, aber gleichermassen wahren Blick, der mir in schwarz und
weiß vom Anderen im Selben erzählt. Ich weiß nicht, worauf ich
scharf stellen soll. Nach innen zu blicken und beide Bilder in eins
fließen zu lassen scheint das Einfachste zu sein. Ich gehe durch Jena
und halte an; Fußmarken auf dem Boden zeigen mir den Standort. Meine
Zauberbrille zeigt mir einen Menschenauflauf, einen Tumult, die Straße
ist voller Aufständischer, der einst dunkle Asphalt knöcheltief
übersät mit Blättern, Flugpapieren: arbeiterliches
Aufbegehren was, wann, hier?
Mit meinem zweiten Auge sehe ich eine Straße im Morgenlicht, ein paar
vereinzelte Menschen zur Arbeit eilend auf hohem Bürgersteig; ein Bild
der Ruhe, zeitlos wirkend. Und dann wieder der Tumult, fast kann man ihn
hören, das Rufen der Menschen, die Unruhe; die Kulisse ist dieselbe:
die Häuser, das Licht.
Im Theater gibt es manchmal diese Doppeltheit: die mitgebrachte Jetztzeit
des gegenwärtigen Besuchers und die des historischen, aktualisierten
Materials. Wenn es funktioniert ist man selbst der Apparat, der die
Verbindung schafft, untrennbar.
In Zusammenhang mit der Gegenständlichkeit der Brille kommt meinem
Freund Ronald eine weitere Brille in den Sinn: ursprünglich war ein
zweiter Turm geplant, der typisch eingespart wurde. Vorgesehen war ein
Binokular, ein Feldstecher, ein Zeissscher, mitten in der Stadt, samt Steg
als Brücke. Nun ist auch hier nur ein einäugiges Fernrohr
geblieben. Das zweite Auge fehlt.
Ich aber sehe mit zwei Augen auf eine Stadt, die sich mir plötzlich
entzieht. Ein doppelter Boden ist eingezogen worden, der ähnlich
einer neuen, siebten Sinneswahrnehmung Abgründe auftut. Parallelwelten,
dieses neuzeitliche Zeitungswort fällt mir ein und gefällt mir zum
ersten Mal, weil es sich konkret abbildet. Und Untergrund, Subversion.
Unweigerlich wird hochgespült, was wie in einer Märchenwelt unter
Gelee liegt: Deutlich steigen Bilder auf, aus den Jahren eines ostdeutschen
Alltags, als hätte man sie selbst gesehen. Aber dieser Alltag wird
wieder gebrochen durch scheinbar absurde Handlungen: zwei nackte
schwarzweiße Menschen steigen in einen städtischen Brunnen,
warum? Und warum nicht?
Ein Volkspolizist sieht gespannt hinter dem Busch hervor, hinter dem ich
stehe. Ich stehe sogar hinter ihm, Voyeurin eines Voyeurs. Die nun von uns
gemeinsam observierten Objekte sind freundlich aussehende junge Menschen
unter Regenschirmen, vor einem Gebäude wartend.
5. September 1989, lese ich auf dem Beipackzettel, und die Szene besetzt
sich im Nu mit der ganzen, für mich als Westberlinerin eher medial
rezipierten Energie um die Tage der Vorbereitung des Mauerfalls.
Ich werde Mitwisserin anderer Zeiten und Perspektiven. Kurz kommt der
Verdacht auf, meine Brille würde sich in eine Lügenbrille
verwandeln, ein Schabernack der Eulenspiegelschen Art.
Das Künstler-/Historikerteam hat in ausführlicher Archivrecherche
Bilder gesucht, die unser heutiges (Un)Verständnis von
öffentlichem Raum zu DDR-Zeiten konterkarieren. Die scheinbar
geklärten Besitzverhältnisse werden in dem Moment in Frage
gestellt, in dem das Volk aufbegehrt. Sei es in den kleinen Gesten des
Brunnenbadens, oder in den großen des Volksaufstandes, von Panzern
blockiert am 17. Juni 1953 auf dem Holzmarkt, um die 20 Jahre vor der
Geburt der Autoren dieses singulären Spaziergangs.
Die in den 10 doppelten Blicken auf die Stadt aufgeworfenen Fragen und
fotografischen Beweise einer selbstbestimmten öffentlichen
Äußerung im städtischen Kontinuum die Fassaden der Häuser,
Straßenverläufe, Lichteinfälle sind meist die gleichen und
markieren sich als Konstante über die politischen Veränderungen
hinweg schwarzweiß wie bunt. Sie sind damit so zeitlos wie die
Zeitaufhebung, die die Brille verursacht.
Das erklärte Ziel jeder aktuellen, zeitgenössischen
Erinnerungsarbeit ist in diesem interaktiven Spaziergang enthalten: nicht
musealisiert und in vandalismussichere Tafeln oder gar Stelen gegossen,
sondern viel zarter und deshalb eindringlicher, denn vor den eigenen Augen
entsteht so ein scheinbar ganz persönlicher Zugang. Der Betrachter wird
nicht via Aufklärung in kollektives Bewusstsein genötigt, er ist
allein mit sich und der Zauberbrille, die im Übrigen ähnlich wie
eine Stereobrille in Überlagerung des schwarzweißen Dias mit der
vielfarbigen Realität heute ein dreidimensionales Bild erzeugt. Das
Innovative und Besondere dieses Erinnerungskunstwerks liegt in seiner
bescheidenen, billigen Ausführung und erreicht damit etwas
beeindruckend Simples: das Sehen mit zwei Augen, einem mehr als sonst,
wollte ich fast sagen, als wären wir alle Polyphem. Die
Überlagerung der beiden zeitlichen Ebenen in einem räumlichen
Kontext erschafft ein drittes Bild. Aber wie könnte man das nennen?
Morphing, sagt Ronald. |
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Katharina Hohmann ist bildende
Künstlerin und war von 1999 bis 2005 künstlerische Mitarbeiterin
an der Fakultät Gestaltung, Freie Kunst der Bauhaus Universität
Weimar. 2001 Mitbegründerin des international ausgerichteten
Studiengangs Public Art and New Artistic Strategies in dem sie bis 2005
lehrte.
Kuratorische Tätigkeit u.a. im Projekt: K&K.Zentrum für Kunst
und Mode, gemeinsam mit Katharina Tietze, seit 2002, das bereits 40
Ausstellungen zeigte.
www.katharinahohmann.de |
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